Der ursprüngliche Plan sah vor, unsere Tätärä von Wladiwostok nach Bangkok zu verschiffen - mittlerweile ein unmögliches Unternehmen, da die bisherigen Anbieter aufgrund der neuen Zollbestimmungen Thailands keinen Transport mehr durchführen. Das bekamen auch einige andere Motorradreisende, die wir in Ulan Bator getroffen haben, am eigenen Leib zu spüren. Da auch Vietnam und Laos sich mittlerweile (was Motorräder angeht) anstellen wie Japaner vor der Karaokebar, fiel es uns etwas leichter, für einen kurzen Zeitraum zwei Rucksäcke aufzusetzen. Aber nur ein wenig. Da wir spontan auch Ellis kranke Mutter in Voronezh bei Moskau besuchen wollten, fiel die Wahl schnell auf die Transsibirische Eisenbahn - die wohl bekannteste Zugverbindung der Welt, um die sich viele romantisierte Mythen ranken. Jedenfalls wollten wir nach einigen einschlägigen Phoenix-Dokus schon immer eine Reise auf diesen endlosen Schienen antreten. Nach 100 Stunden am Stück können wir die Frage beantworten, ob es sich bei dem Trip tatsächlich um ein rollendes Dauerkino für Naturfans handelt, oder eine perfekte Marketingmasche für das russische Äquivalent zur chinesischen Wasserfolter - langsam und qualvoll.
Wenn du dich fragst, wieso es nur um die Frage nach Folter oder epischer Sightseeing-Fahrt geht und kein "Mittelding" in Frage kommt, schau einfach mal auf die Karte über diesem Text, oder fahre mit dem Finger über einen Globus. Egal ob dicker Wurstfinger oder schlanke Gichtkralle: Dein Finger wird einiges an Strecke zurückzulegen haben. Wenn diese Fahrt also langweilig wird, dann für lange Zeit und Langeweile für eine lange Weile ist bekanntlich schlimmer als eine Spontanerektion beim Schwimmunterricht. Wenn es jedoch tatsächlich rund um die Uhr schönste Landschaft zu sehen gibt, dann handelt es sich um den längsten und besten 3-D Film der Welt.
Aber gut, zurück zu der Fahrt selbst und der Frage, warum ein 30-jähriger und eine 27-jährige sich als "alt" bezeichnen. Es geht um die Entscheidung, ob wir den "Klassiker", nämlich die Fahrt in der Holzklasse, namentlich 3. Klasse oder "open sleeping compartment" wagen, oder doch lieber die komfortablere zweite Klasse im Vierer-Schlafabteil wählen. Nachdem wir "Transsib 3rd class" bei Google eingegeben haben, fiel die Entscheidung sofort auf zweite Klasse und das Fazit "für den Scheiß sind wir jetzt echt zu alt!"
Einfach mal ausprobieren in der Bildersuche. Nachdem wir später im Zug von Moskau nach Voronezh eine Nacht in der dritten Klasse verbringen mussten, können wir sagen: So müssen sich Stalins Deportationszüge angefühlt haben. Ja genau, Deportationszüge, eine Aussage jenseits jeglicher politischer Korrektheit, weil es zur Beschreibung dieser Schlafwaggons einfach keine bessere Beschreibung gibt. Wie manche Reisende davon als "originale Erfahrung" schwärmen können, ist uns schleierhaft. Es sei denn jemand genießt das Schlafen auf einer 40 cm breiten Pritsche zwischen schwitzenden, betrunkenen Russen im Unterhemd, bei vollem Licht, dunstigem Zigarettenrauch und fehlender Klimaanlage bei gleichzeitig voll aufgedrehter Heizung und keinerlei Atemluft.
Die zweite Klasse hat dagegen tatsächlich ihre Reize...
Die Transsibirische Eisenbahn ist entgegen häufiger Missverständnisse kein einzelner Zug, sondern die Bezeichnung der Strecke Moskau-Peking, auf der hunderte Züge mit Schlafwagen zirkulieren. Es gibt die dritte Klasse für das Stalinsche Deportationsrollenspiel, die zweite Klasse im Vier-Personen-Schlafabteil und eine Luxusklasse mit Doppelkabinen, die jedoch trotz ihres exorbitanten Preises kaum komfortabler ist als die zweite Klasse. Der Preis von Ulan Ude nach Moskau betrug umgerechnet 320 Euro für uns beide mit einem Bett unten und einem oben. Es ist möglich in den Städten entlang der Route auszusteigen und einen der nächsten Züge zu nehmen, um sich solange interessante Orte eingehender anzuschauen. Die meisten Touristen tun genau das, denn es hat einige Vorteile: man kann das gesamte Land durchqueren, die Highlights anschauen und die Zugfahrt in wohldosierten Einzelhäppchen genießen. Nur Russen, die günstig die gewaltigen Distanzen zwischen den Städten überbrücken wollen oder von ihrer Arbeit auf Öl- und Gasfeldern im hintersten Loch Sibiriens nach Moskau zurückkehren, sind so "bekloppt" wie wir und fahren in eins durch (Zitat unseres russischen Kabinengenossen). Es gibt einen Speisewagen mit halbwegs fairen Preisen und in jedem Waggon kostenlos heißes Wasser für Tee und 5-Minuten-Terrinen, die jeder Fahrgast schlürft als handle es sich tatsächlich um essbare Nahrung.
Die Kabinen selbst haben ein Radio mit Lautstärkeregelung, die aber in unserem Fall nicht funktioniert hat und uns damit eher auf die Nerven gegangen ist. Es gibt keine Klimaanlage im Zug, darum wird es schnell heiß und stickig, da sich selbst in der zweiten Klasse zu viele Mundatmer auf kleinem Raum tümmeln. Alle fünf bis sechs Stunden hält der Zug an einem Bahnhof an und bietet den Fahrgästen somit manchmal fünf, manchmal 60 Minuten Zeit, um sich die Beine zu vertreten, wie ein erstickender Fisch nach Luft zu schnappen (das Bild des Fisches ist nicht ohne Grund gewählt - es gibt keine Duschen in der Transsib), oder einkaufen zu gehen.
Warum nicht? Weil es nicht mehr 1968 ist, wo man sich einen Joint gedreht hat und zwanzig Stunden selig aus dem Fenster gucken konnte, ohne von beunruhigenden Zuckungen in Richtung Smartphone heimgesucht zu werden. Oder weil man keine Unteroffiziersprüfung - stumm geradeaus schauen und trinken - bestanden hat, oder weil man kein Zen-Meister ist. Oder weil man Nemo mittlerweile gefunden hat und sich damit abfindet von nun an ziellos im Ozean zu treiben. Na, du verstehst schon was wir meinen. Die Landschaft, die an uns und unseren bald schmierigen Haaren und klebrigen T-Shirts vorbeirauscht (immerhin haben wir an Feuchttücher gedacht und nicht gestunken, wie unsere russischen Genossen, die "Transsib" scheinbar mit "rollender Freiraum für Antihygieniker" übersetzen...), ist um den Baikalsee und das Altai herausragend schön. Ein Großteil der Reise besteht allerdings aus endlosen Wäldern und Flachland, sodass man bald nur noch den immer gleichen Fichten-Einheitsbrei sieht und die beunruhigenden Zuckungen wieder anfangen. Wir haben irgendwann begonnen uns endlich mal wieder einer Fernsehserie zu widmen und auf der Fahrt die komplette Serie "House of Cards" gesehen. Danach waren wir dank der Transsib zumindest wieder für die nächsten Monate vom Fernsehimpuls geheilt.
Schlafen ist übrigens auch ein praktischer Zeitvertreib, denn die Betten der zweiten Klasse sind überraschend gemütlich und das sachte Schaukeln und Ruckeln des Zuges funktioniert scheinbar als direkter Draht zum Unterbewusstsein, das uns suggeriert wieder von Mama in der Wiege geschaukelt zu werden. Aber das ist nicht der einzige Grund für den tiefen Schlaf: Eines Nachts sind wir aufgewacht, weil wir sicher waren jemand habe uns eine Plastiktüte über den Kopf gestülpt um uns zu ersticken. Aber dem war nicht so. Die Schaffnerin brauchte nämlich gar keine Plastiktüte um unserem Lebensatem den Kampf anzusagen: sie hat einfach kurzerhand die wenigen Fenster im Flur abgeschlossen und damit effektiv die Atemluft ausgesperrt. Da die Kabinen keine öffenbaren Fenster besitzen, haben wir rund um die Uhr mindestens ein Fenster im angrenzenden Flur geöffnet, um frische Luft zu bekommen, denn es gibt ja keine Klimaanlage. Die Schaffnerin (jeder Waggon hat eine eigene Matrone an Bord, die das Sagen hat) war jedoch der Meinung, dass mehr geheizt werden müsse, hat von abends bis mittags darum die Schlüssel umgedreht. Bei etwa 40 Personen pro Waggon und keinerlei Klimasystem führte das schnell dazu, dass es nicht nur nach ungewaschenen Körpern stank, sondern wir durch den Sauerstoffmangel so müde wurden, dass wir oft einfach nur dahinvegetieren konnten.
Unser Tipp: Die Transsib in Etappen genießen wie jeder normale Tourist, dann handelt es sich um eine urige Fahrt mit teilweise toller Aussicht und überraschend schönen Städten zum Erkunden (Yekaterinburg, Omsk, Novosibirsk und Irkutsk seien hier besonders hervorgehoben). Und natürlich Moskau, aber nur den Stadtkern um den Kreml, dann werdet ihr Europas größte Stadt in bester Erinnerung behalten! Nächster Halt: Vietnam. Sonne. Wärme. Juhu!
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